Warum Demokratie Archive braucht – Interview mit Fachbereichsleiter e-Research Matthias Razum

Frage: Warum braucht Demokratie Archive? Welche Rolle spielen Archive und Dokumentationsstellen im digitalen Zeitalter für die Stärkung der Demokratie? 

Archive sind ja sozusagen Fenster in die Vergangenheit: Dank ihrer Archivalien können wir verstehen, wie Gesellschaft und Regierungshandeln früher funktioniert hat. Gleichzeitig sammeln sie für die Zukunft, was wir heute an Akten, Fotos und sonstigen Dokumenten erzeugen. Sie wählen jene Unterlagen aus, die von bleibendem Wert sind. Ein Blick auf die zahllosen Fotos im eigenen Handy zeigt schon: Ohne Auswahl geht es nicht. Das Richtige auszuwählen, um unsere heutige Epoche, unser Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen in der Zukunft nachvollziehbar zu machen, ist eine echte Herausforderung. Dafür gibt es den schönen Begriff der „Überlieferungsbildung“. Die Archivar*innen beobachten dazu den „Dokumenten-Output“ unserer Gesellschaft – insbesondere den von Regierungen, Behörden und Ämtern. Dadurch entsteht Transparenz. Und Transparenz ist eine absolute Grundvoraussetzung für Demokratie. Nur informiert können wir Bürger*innen unsere Rolle als Souverän ausüben.

Transparenz als absolute Grundvoraussetzung für Demokratie

Frage: Kannst Du erklären, was genau EEZU ist und wie solch eine Software die Arbeit von Archiven und die demokratische Teilhabe stärkt?

Anders als Bibliotheken verfügen Archive meist über unikale Bestände. Die gibt es sonst nirgendwo mehr. Deswegen sind gerade auch kleine und kleinste Archive wichtig – für die historische Forschung wie für die Bürger*innen vor Ort. Demokratie findet ja nicht nur in Berlin und Brüssel statt. Nur sind die meisten dieser kleinen Einrichtungen massiv unterbesetzt und unterfinanziert. Das führt dazu, dass sie den digitalen Wandel kaum stemmen können. Digital sichtbar zu sein wird aber zunehmend zur Voraussetzung für die Wahrnehmung. Adrian Lobe schrieb überspitzt in der SZ: „Nur was Google findet, existiert“. Mit unserer einfachen Erschließungs- und Zugriffssoftware EEZU unterstützen wir kleinere Archive, ihre Findmittel digital zu erfassen, ihre Digitalisate zu verwalten und ihre Bestände im Internet auffindbar zu machen. Alles, was sie dafür benötigen, sind Laptop und Internetzugang. Und wenn das Archiv dann nur einen Mausklick entfernt ist, sinkt die Schwelle für Bürger*innen, dort zu recherchieren.  
 

Frage: Das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ ist ein weiteres wichtiges Projekt, an dem FIZ Karlsruhe maßgeblich beteiligt ist. Wie helfen solche Portale bei der Aufarbeitung historischer Unrechtstaten? Wer ist die Zielgruppe solcher Portale?

Archive verfügen über enorme Bestände, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Entsprechend aufwändig ist es, sich zurechtzufinden und zu gesellschaftspolitisch wichtigen und demokratiestärkenden Themen die interessantesten Archivalien ausfindig zu machen. Deswegen bauen wir gemeinsam mit Partnern wie dem Bundesarchiv oder dem Landesarchiv Baden-Württemberg mit seiner Dokumentationsstelle Rechtsextremismus thematische Sichten auf, sogenannte Themenportale. Eines davon ist das Themenportal zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, gefördert vom Bundesministerium der Finanzen. Langfristiges Ziel ist hier, alle Fallakten – also die Entscheidungen der Behörden über Entschädigungsanträge – weltweit digital verfügbar zu machen, sofern das rechtlich und ethisch möglich ist. Das sind aneinandergereiht mehr als 100 km Akten. Klingt erstmal vielleicht nicht so spannend, aber jeder Fall in diesen Akten ist ein persönliches Zeugnis für erlittenes Unrecht. Jede Akte enthält die Schilderung eines individuellen Lebens- und Leidenswegs – und dokumentiert gleichzeitig den Umgang der Behörden mit diesen traumatischen Schilderungen. Darin spiegelt sich die gesellschaftliche Einstellung zur damals umstrittenen Wiedergutmachung. Vor allem aber dokumentiert es akribisch das unfassbare Unrecht der Nazi-Zeit. Millionenfache Fakten gegen Verharmlosung und Relativierung: Das ist offensichtlich wichtig für die politische Bildung. Es ist aber auch wichtig für die Familien der Opfer, um ihre Familiengeschichte zu verstehen, über die oft nie gesprochen wurde. 

Millionenfache Fakten gegen Verharmlosung und Relativierung